Version revue par Angelika Gausmann

Angelika GAUSMANN
Erprobung des Prinzips « Verdichtung » beim Landschaftszeichnen in einem Grundkurs Kunst (Paderborn, 1995)
(Auszüge)

Anbindung an die Richtlinien

Der größte Teil dieser Unterrichtsreihe (…) sind dem Handlungsfeld der Produktion visueller Texte zugeordnet. Insbesondere werden bei den Zielsetzungen der Schwerpunkt auf die Erprobung eines Konzepts gelegt und die Bewusstseinsinhalte aktiviert, “die auf unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung beruhen” (Gert Selle). Im Handlungsfeld der Rezeption visueller Texte liegt der Schwerpunkt auf der Analyse der Strukturen visueller Texte und darauf, sie als “spezifische sinnlich-konkrete Verarbeitung von Wirklichkeit zu erfahren” (Gert Selle). Als Methode wird ausschließlich eine bildimmanente, um biographische Daten des Künstlers erweiterte Bildinterpretation gewählt.

Eine eindeutige Zuordnung zu einem Lernbereich ist mit dieser Unterrichtsreihe nicht möglich. Die Analyse der Landschaftslithographien Leo Marchutz’ im Handlungsfeld B ist dem Lernbereich III zuzuordnen, der visuelle Texte “vorrangig, unter dem Aspekt seiner personbezogenen Aussagemöglichkeiten(Gert Selle) sieht, aber auch Lernbereich II, der “visuelle Texte als elementare Konzeptionen bildnerischer Wirklichkeitsverarbeitung(Gert Selle) begreift.

Leo Marchutz und sein Werk eignen sich deshalb zur Zuordnung zum Lernbereich III, da er als Künstler immer Individualist gewesen ist und sich keiner Schule oder Künstlergruppe angeschlossen hat. Als einzige Autorität in der Bildenden Kunst hat er Paul Cézanne akzeptiert, der gleichsam einen individuellen Weg genommen hat und nur punktuelle Kontakte zu den Impressionisten hatte. In dieser freiwillig gewählten Isolation entwickeln Cézanne wie Marchutz eigene Konzeptionen der Landschaftsmalerei, die bis heute ihre Gültigkeit haben. So lassen sie sich auch dem Lernbereich II zuordnen. Die von Leo Marchutz entwickelte Konzeption der Verdichtung des gesehenen Landschaft steht als besonderes Konzept des verdichtenden Wirklichkeitsverarbeitung in der Zeichnung (Ernst H. Gombrich) im Mittelpunkt der praktischen Arbeit.

Letztendlich wird in dieser Reihe der Lernbereich I, “Visuelle Texte als spezifische Form von Wirklichkeitsverarbeitung” berührt, wenn es um das Medium der Lithographie bei Marchutz und um das des Aquarells bei Cézanne geht. Die Technik spielt jedoch eine untergeordnete Rolle, die für die theoretische Erarbeitung vernachlässigt werden kann. Vielmehr steht die Zeichnung an sich mit ihrer Spontaneität im Mittelpunkt.

(…)

Thema

Seit Mitte des 15. Jahrhunderts – mit dem Verschwinden des Goldgrundes – gibt es die Landschaftsmalerei und -zeichnung als eigenständige Gattung der Malerei. Malten die Künstler – wie die behandelten Nicolas Poussin und Caspar David Friedrich – noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Atelier und inszenierten Landschaften, so verlassen es Constable, Turner und Corot und beginnen mit der Freiluftmalerei und –zeichnung. Im Impressionismus wird die Landschaftsdarstellung plein air zum zentralen Thema. Aus dem Impressionismus kommend, entwickelt Paul Cézanne in seinen unzähligen Bildern der Montagne Ste. Victoire seine eigene Konzeption von Landschaftsmalerei: es geht ihm weniger darum, ein impressionistisches Abbild des Bergmassives zu malen oder zu aquarellieren, sondern um die Auflösung des Gesehenen in Farbflecke und darum, durch die Bewahrung ihrer Eigenständigkeit im Bild Harmonie parallel zur Natur zu schaffen.

In dieser Tradition steht Leo Marchutz, der sich bewusst der Landschafszeichnung zuwendet, weil er in der Zeichnung die größtmögliche Spontaneität entwickeln kann. Seine Zeichnungen, die er stets in situ ausübt und denen er seine Primärerfahrungen künstlerisch verdichtet, gehören zu den Spielarten der modernen Landschaftszeichnung.

Die Landschaftszeichnung hat sich anderen Problemen zu stellen als die Landschaftsmalerei. In der Zeichnung wird die Landschaft in ein Gefüge von Linien unterschiedlicher Qualität und Struktur umgesetzt, und nicht wie in der impressionistischen Malerei in ein Gefüge von Farbflecken.

(….)

Mit der Loslösung von der Landschaftsmalerei hin zur Stadtlandschaft und der bewussten Hinwendung zur Zeichnung erobert er sich eigene Themen und Gestaltungsmittel und kann Cézanne auf einem eigenen Weg weiterentwickeln. Mit dem Impressionismus ist er insofern noch verbunden, das er die Natur, das Gesehene, als Motiv wählt, aber kein Naturalist ist. Im Laufe seiner Entwicklung entfernt er sich immer mehr vom Impressionismus zugunsten harmonischer, klarer, heiterer Zeichnungen mit hoher Eigenständigkeit.

Sein Werk wird von den Zeitgenossen geschätzt, aber da er nicht in die Kunstströmungen der fünfziger Jahre einzuordnen ist, wird er nicht in den Pariser Galerien ausgestellt. Er entwickelt eine Methode, mehrfarbige Lithographien mit nur einem Druckstock zu drucken, um Linie und Farbe zu einer Einheit zu verbinden.

Aus seinen künstlerischen Erfahrungen entwickelt er eine Kunstpädagogik des Sehens und Zeichnens.

Leo Marchutz widmete sich vier Jahre lang – von 1951 bis 1955 – den Strassen von Aix, wo er zarte Bleistiftzeichnungen anfertigte. Es geht ihm dabei weniger um ausgearbeitete Zeichnungen , als um das Verstehen von grundsätzlichen Beziehungen wie “Dächer und Himmel” oder “Grundfläche und Gebäude” (William Weyman). Ihm ist dabei “das architektonische Ganze wichtiger als das isolierte Meisterwerk, weil es am täglichen Leben der Menschen teilnimmt” (Alan Roberts). Nach Alan Roberts charakterisieren besonders die Abstraktion, Einfachheit, Unmittelbarkeit und Originalität in Leo Marchutz’ Werk seine moderne minimalistische Kunst, die zeitlos und reich an visuellen Beziehungen ist”.

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